Ketten-Unfall und Haftung

Wenn es zum sogenannten Ketten – Auffahrunfall kommt, stellt sich insbesondere folgende Frage: Wer haftet in welcher Höhe?

Bei Verkehrsunfällen mit mehreren beteiligten Fahrzeugen stellt sich häufig die Frage: Wer haftet und in welchem Umfang? Besonders bei sogenannten Kettenauffahrunfällen ist die Klärung der Verantwortlichkeit nicht immer einfach. Ein aktuelles Urteil des Landgerichts Stralsund (Urteil vom 27.05.2025, Az. 2 O 204/24) bringt hier mehr Klarheit.

Der Fall: Drei Fahrzeuge, ein Auffahrunfall

Auf einer Umgehungsstraße bei Stralsund kam es zu einem Auffahrunfall mit drei hintereinander fahrenden Fahrzeugen. Die Fahrerin des mittleren Wagens – die spätere Klägerin – gab an, rechtzeitig gebremst und einen Zusammenstoß mit dem vorderen Fahrzeug vermieden zu haben. Ihr Auto sei zum Stillstand gekommen, ohne das vorausfahrende Fahrzeug zu berühren.

Kurz darauf sei jedoch das hinterste Fahrzeug auf ihr stehendes Auto aufgefahren – und habe es dadurch auf das vordere Fahrzeug geschoben. Die Folge: ein Schaden am Heck und an der Front des mittleren Fahrzeugs.

Versicherung verweigert vollständige Zahlung

Die Haftpflichtversicherung des Fahrers des dritten Fahrzeugs erkannte lediglich 70 % des Schadens an – und wollte nur den Heckschaden ersetzen. Ihrer Argumentation zufolge sei das mittlere Fahrzeug bereits auf das vordere Fahrzeug aufgefahren, bevor es vom Dritten getroffen wurde. Daher sei die Klägerin zumindest teilweise selbst verantwortlich.

Gericht: 100 % Haftung des Auffahrenden

Das Landgericht Stralsund folgte dieser Darstellung nicht. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass das mittlere Fahrzeug tatsächlich bereits stand, als der Aufprall durch das dritte Fahrzeug erfolgte. Der Rückschluss: Nur durch den Aufprall des Hintermanns sei es zum weiteren Schaden gekommen.

Die Folge: Der Fahrer des dritten Fahrzeugs muss sämtlichen Schaden – sowohl am Heck als auch an der Front – vollständig ersetzen.

Anscheinsbeweis: Klare Haftung bei Auffahrunfällen

In der Rechtsprechung ist gefestigt: Wer auffährt, trägt grundsätzlich die Verantwortung. Der sogenannte Anscheinsbeweis spricht für ein Fehlverhalten des Auffahrenden – etwa durch mangelnden Sicherheitsabstand oder Unachtsamkeit (§§ 1, 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 StVO). Dieser Beweis kann zwar entkräftet werden – allerdings nicht allein durch das Argument, der Vordermann habe “plötzlich” gebremst. Insbesondere das Thema „provozierter Unfall“ ist hier relevant.

Auch bei Kettenauffahrunfällen relevant

Die Besonderheit im entschiedenen Fall: Trotz der Beteiligung von drei Fahrzeugen blieb es beim Grundsatz. Der Anscheinsbeweis galt auch hier – weil nachweislich das mittlere Fahrzeug bereits stand, bevor der hintere Wagen auffuhr. In solchen Konstellationen kann also eine volle Haftung des Auffahrenden bestehen – auch für Folgeschäden.

Fazit:
Kettenauffahrunfälle führen häufig zu komplexen Haftungsfragen. Doch wenn sich beweisen lässt, dass ein Fahrzeug bereits stand, bevor es durch ein anderes auf ein drittes geschoben wurde, trägt der Auffahrende die volle Haftung. Versicherer müssen dann 100 % des Schadens übernehmen – auch wenn mehr als zwei Fahrzeuge beteiligt sind.

Tipp:
Wenn Sie in einen Kettenauffahrunfall verwickelt sind, dokumentieren Sie die Spuren und den Stand Ihres Fahrzeugs nach Möglichkeit genau. Eine lückenlose Beweissicherung kann im Streitfall entscheidend sein – gerade dann, wenn Versicherer nur eine Teilhaftung anerkennen wollen.

Häufige Fragen zu einem Kettenauffahrunfall

Was ist ein Kettenauffahrunfall?

Ein Kettenauffahrunfall liegt vor, wenn drei oder mehr Fahrzeuge hintereinander aufeinander auffahren. Die Schadensverteilung hängt stark vom genauen Unfallhergang ab.

Trägt immer der Hintermann die Schuld?

Bei einem klassischen Auffahrunfall spricht der sogenannte Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden. Auch bei mehreren Fahrzeugen kann dieser Beweis gelten – sofern z. B. das mittlere Fahrzeug bereits zum Stehen gekommen war.

Was passiert, wenn mehrere Auffahrende beteiligt sind?

Dann wird differenziert geprüft, welches Fahrzeug auf wen aufgefahren ist und ob ein Fahrzeug bereits stand. Die Haftung kann anteilig oder – wie im Urteil des LG Stralsund – vollständig dem auffahrenden Fahrer zugerechnet werden.

Was bedeutet „Anscheinsbeweis“ konkret?

Dabei handelt es sich um eine rechtliche Vermutung: Wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt (z. B. Auffahrunfall durch zu geringen Abstand), wird angenommen, dass der Auffahrende schuld ist – es sei denn, er kann diesen Anschein widerlegen.

Welche Beweise sind bei einem Kettenauffahrunfall wichtig?

Fotos vom Unfallort, Zeugenaussagen, Dashcam-Aufnahmen und das Schadensbild aller Fahrzeuge sind entscheidend, um den Ablauf nachvollziehbar zu belegen.

Entdecke mehr von Rechtsanwalt Verkehrsrecht § Kanzlei Dr. Hartmann & Partner

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen