Vorfahrtsverstoß

und trotzdem keine volle Haftung?

Wenn ein Kraftfahrer die Vorfahrt eines anderen Verkehrsteilnehmers missachtet, spricht zunächst der Anscheinsbeweis dafür, dass er den Unfall verursacht hat. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen dem wartepflichtigen ein eigener Ersatzanspruch zusteht. Gleichzeitig kann seine Ersatzpflicht im Passivprozess (der vorfahrtsberechtigte macht hier Ansprüche geltend) reduziert sein.

Zwar hebt auch eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung eines bevorrechtigten dessen Vorfahrtsrecht nicht auf. Die Frage ist aber, inwieweit der wartepflichtigen darauf vertrauen darf, dass der vorfahrtsberechtigte Kraftfahrer eine angemessene oder üblicherweise noch tolerierte Geschwindigkeit einhält. So ist in dieser Situation typisch die Einlassung

„als ich anfuhr, war er noch nicht zu sehen, plötzlich tauchte er mit total überhöhter Geschwindigkeit auf“.

Dieser Aspekt greift aber nur insoweit, als der Wartepflichtige bei sorgfältiger Beobachtung nicht erkennen kann, dass der Bevorrechtigte sich mit einer höheren Geschwindigkeit nähert (vgl. BGH NJW 1984,1962). Fehleinschätzungen gehen hierbei zulasten des Wartepflichtigen. Hierbei kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass bei Überschreitungen ab einem Pauschalsatz von 60 % der wartepflichtigen immer entlastet ist. Wenn aber das Gericht zu dem Ergebnis kommt (meist nach Einschaltung eines Sachverständigen), dass das bevorrechtigten Fahrzeug zum Zeitpunkt des Beginns des Ein- bzw. Abbiegens noch außerhalb der Sichtweite des Wartepflichtigen gewesen sein kann (vgl. OLG Saarbrücken, VA 1 0,200) ist der sogenannte Anscheinsbeweis, nachdem der Vorfahrtsberechtigte im Grundsatz gar nicht haftet, erschüttert. Hierbei genügt jedoch eine nur theoretisch mögliche Unsichtbarkeit nicht. Wenn aber der Vorfahrtsberechtigte die zulässige Höchstgeschwindigkeit nachweislich deutlich überschritten hat (in der Entscheidung BGH R+S 86,173 wurden 104 km/h statt erlaubter 50 km/h gefahren) ist eine solche Erschütterung des Anscheinsbeweises gegeben. Dann kann nach den §§ 17,18 StVG, § 254 BGB die Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtsberechtigten zur Anspruchskürzung, gegebenenfalls sogar auf Null, führen.

Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Geschwindigkeitsüberschreitung unstreitig oder erwiesen ist. Nicht immer ist hierbei die zulässige Höchstgeschwindigkeit der entscheidende Maßstab. Besonderheiten wie Dunkelheit, Nässe, bauliche Gegebenheiten an der Einmündung usw. können eine Reduzierung gebieten. Weiterhin muss sich die Geschwindigkeitsüberschreitung auf das Unfallgeschehen oder dessen Folgen, zum Beispiel den Schadensumfang, ursächlich ausgewirkt haben.

Die Darlegungs- und Beweislast trifft hierbei stets den Wartepflichtigen, wenn er eine überhöhte Geschwindigkeit geltend macht, eben wegen des bereits zitierten Anscheinsbeweises. Die bloße Behauptung eines „erheblichen Geschwindigkeitsverstoßes“ genügt hierbei nicht. Verlangt wird konkreter Vortrag von Anknüpfungstatsachen (zum Beispiel Bremsspuren, Schadensbilder). Hierbei muss dargelegt und bewiesen werden:

–       die tatsächliche Geschwindigkeit und
–       der ursächliche Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung und Unfall, sowie dem Schaden.

Das bedeutet, dass der Vortrag in einer Klageschrift entsprechend fundiert erfolgen muss. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung als solche ist, isoliert betrachtet, haftungsrechtlich bedeutungslos. Ohne Nachweis des rechtlichen Ursachenzusammenhang zwischen der Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit und Unfall muss sie bei der Haftungsabwägung über bei der Verschuldens unberücksichtigt bleiben.