Vorfahrtsverstoß und Anscheinsbeweis

Vorfahrt = Schuld?

Immer wieder beschäftigen Fälle die Gerichte, bei denen ein Wartepflichtiger an einer Vorfahrtsstraße unter Missachtung dieser Vorfahrt in einen Unfall gerät (Vorfahrtsverstoß), sodann aber die Behauptung aufstellt, dass andere Verkehrsteilnehmer den Unfall verursacht und somit zu vertreten hat.

Der Beispielsfall

Sowie in vorliegendem Fall. Der Anspruchsteller wollte nach rechts abbiegen. Dabei stieß er mit dem von rechts kommenden (vorfahrtsberechtigten) Fahrzeug des Beklagten zusammen, weil diese, trotz des Vorfalls recht, ohne verkehrsbedingtem Grund auf der für sie linken Fahrbahn gefahren sei.

Die Sicht der Gerichte

Das Landgericht Saarbrücken seinem Urteil vom 29. 4. 2016 (13S3/16) dieser Auffassung eine Absage erteilt. Folgende Begründung: fährt ein Wartepflichtiger aus einer untergeordneten Straße nach rechts in einer bevorrechtigten Straße ein und stößt er in den durch die Vorfahrt geschützten Bereich mit einem vorfahrtsberechtigten Fahrzeug zusammen, liegt zwar ein Vorfahrtsverstoß vor, es spricht gegen den Wartepflichtigen immer dann der Anscheinsbeweis, wenn er – etwa wegen der Straßen weiter – nicht darauf vertrauen durfte, dass er ohne Behinderung oder Gefährdung des Verkehrs in die Straße einfahren durfte.

Die Begründung

So lag der Fall hier. Zwar war die Unfallgegnerin auf die von ihr aus gesehen linke Fahrbahn rüber gekommen. Auf einen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO konnte sich vorliegend der Kläger schon deshalb nicht berufen, weil durch diese Regelung nicht einbiegen, wartepflichtige Verkehr aus der untergeordneten Straße geschützt wird. Dies hatte der BGH in einem Urteil aus dem Jahre 1974 (Aktenzeichen III ZR 73/72) bereits entschieden. Gemäß § 2 Abs. 2 StVO ist möglichst weit rechts zu fahren. Bei der Beurteilung, ob ein vorfahrtsberechtigten dieses Gebot verstoßen, ist aber stets zu berücksichtigen, dass jeder Verkehrsteilnehmer auf der vorfahrtsberechtigten Straße grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass ein Biegen der Fahrzeuge beachten und ihn verlassen werden, bevor sie einbiegen. Dies gilt auch dann, soweit er nicht ganz rechts. Das Rechtsfahrgebot bedeutet deshalb nicht, äußerst rechts „so weit wie möglich“ zu fahren. Das Rechtsfahrgebot gilt auch nicht starr, sondern gewährt je nach den Umständen im Rahmen des vernünftigen einen Spielraum. So lag es hier. Nach den vorgenannten Erwägungen war nämlich ein unfallursächlicher Verstoß der (vorfahrtsberechtigten) Verkehrsteilnehmer Rennen, die leicht von dem Rechtsfahrgebot abgewichen war, nicht nachgewiesen. Denn die Verkehrssituation war aufgrund der Verengung der Fahrbahn, insbesondere durch beiderseits parkende Fahrzeuge, dadurch geprägt, dass für den wartepflichtige mit Gegenverkehr auf der eigenen Fahrbahnhälfte zu rechnen war. Somit konnte alleine durch möglichst weiterreicht Fahren der konkreten Gefahr einer Frontalkollision nicht sicher begegnet werden.

Mithaftung?

Das Gericht hat auch keinen Raum für eine Mithaftung der (vorfahrtsberechtigten) Beklagten aus der Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges gesehen, trotz des Vorfahrtsverstoß der Gegenseite. Vielmehr gilt auch hier, dass die einfache Betriebsgefahr des bevorrechtigten Fahrzeuges grundsätzlich gegenüber dem Verkehrsverstoß gegen § 8 StVO zurücktritt und die Alleinhaftung des wartepflichtigen begründet. Diese Beurteilung folgt aus der besonderen Bedeutung der Vorfahrtsregelung, die den wartepflichtige in Verkehrsteilnehmer die Pflicht zu erhöhter Sorgfalt auferlegt und deren Verletzung daher besonders schwer wiegt, wie der BGH bereits in einem Urteil aus den sechziger Jahren (VersR 1964,1195) klargestellt hatte.