Viel Bewegung ist im Moment beim Thema „Verteidigung gegen Geschwindigkeitsverstoß“, genauer gesagt das Recht auf Akteneinsicht. Denn wenn keine vollständige Akteneinsicht gewährt wird, kann auch nicht von einem ordnungsgemäßen Verfahren ausgegangen werden. Die Folge ist, dass es nicht zu einer Verurteilung des Betroffenen kommen kann.
Das Landgericht Köln hat nun in seinem Beschluss (gemäß § 304 StPO) vom 11.10.2019 zum Aktenzeichen 323 QS 106/19 eine Entscheidung zugunsten der Autofahrer gefällt. Es hat, im Anschluss an einige Gerichte vorher, das Recht auf Akteneinsicht weit definiert. Hiernach hat der Betroffene eines Bußgeldverfahrens ein Recht auf Einsicht in sämtliche existenten, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen. Dies auch dann, wenn sich diese nicht in den Gerichtsakten, sondern bei der Verwaltungsbehörde befinden. Hierzu gehören auch die digitalen Fall-Dateien. Inklusive Rohmessdaten der kompletten Messreihe (d.h. von dem kompletten Messeinsatz, nicht nur von dem in Rede stehenden Vorgang).
Das Recht, in allen Einzelheiten über Art und Grund der erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden
Dieses Recht ergebe sich aus dem Gebot des fairen Verfahrens und dem daraus folgenden Gebot der Waffengleichheit (Art. 20 Grundgesetz, Art. 6 europäische Menschenrechtskonvention) die vorgenannten Bestimmungen sind die Grundlage für die Ableitung eines fairen Verfahrens, das nun einmal auch im Ordnungswidrigkeitenrecht durchzuführen ist. Genauer hingeschaut: gemäß Art. 6 Absatz 3 a) EMRK hat jede angeklagte Person mindestens das Recht, in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden. Dabei wendet sich das Gebot einer rechtsstaatlichen, fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte. Es ist auch von allen anderen staatlichen Organisationen zu beachten, die auf den Gang eines Straf- und Bußgeldverfahrens Einfluss nehmen.
Der Grundsatz des fairen Verfahrens und das hieraus folgende Gebot der Waffengleichheit erfordern, dass sowohl die Verfolgungsbehörde als auch die Verteidigung in gleicher Weise ihre Rechte wahrnehmen können, um so Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligte angemessen abwehren zu können. Insofern kann sich, so das Gericht, ein Recht auf Einsicht in Akten oder Daten ergeben, welches über das Recht auf Einsicht in die dem Gericht vorliegenden Akten (aus § 147 Abs. 1 StPO folgend) hinausgeht.
Dies ist nämlich genau das, was einem Verteidiger häufig von (unwissenden) Amtsrichtern vorgehalten wird. Dass man eben nicht mehr an Informationen in der Gerichtsakte habe, somit auch keine weitergehende Akteneinsicht gewähren könne. Dies ist aber, aus den oben dargestellten Gründen nun einmal falsch.
Einsichtsrecht insbesondere auch bei standardisierten Messverfahren
Ausgangspunkt ist auch hier das sogenannte standardisierte Messverfahren. Dies bedeutet, dass im Grundsatz davon ausgegangen wird, dass bei gleich bleibenden Messvorgängen zutreffende Ergebnisse herauskommen. Das Gericht hat im geschilderten Fall klargestellt, dass es keinen Erfahrungssatz gibt, dass dies unter allen Umständen zuverlässig der Fall ist. Dies hatte der BGH schon im Jahre 1993 entschieden.
Umso mehr muss dann die Verteidigung bei einem Geschwindigkeitsverstoß im Vorfeld der Hauptverhandlung ein Einsichtsrecht in die maßgeblichen Unterlagen haben. Insbesondere bei standardisierten Messverfahren.
Dabei ist es unerheblich, ob bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind. Denn ohne umfassende Kenntnis der zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen, die den Verfolgungsbehörde zur Verfügung stehen, kann der Betroffene bzw. die Verteidigung schon nicht verlässlich beurteilen, inwiefern zweckmäßigerweise Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Auch dies ist ein durchaus üblicher Ansatz von Amtsgerichten: man möge doch einen fundierten Beweisantrag stellen, damit das Gericht diesem nachgehen könne. Nach dem vorgenannten ist es aber genau umgekehrt. Erst muss man Einsicht in die genannten Messunterlagen (inklusive der Messsequenz) haben. Dann kann ein solcher Beweisantrag unter Anknüpfung an mögliche Auffälligkeiten, formuliert und gestellt werden.
Im vorliegenden Fall wurde jedenfalls das Urteil des Amtsgerichtes aufgehoben.
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