Rückfahrkamera ersetzt nicht die Sichtkontrolle

Das Landgericht (LG) Lübeck hat ein interessantes Urteil zum Rückwärtsfahren gefällt. Kernpunkt: eine Rückfahrkamera ersetzt beim Rückwärtsfahren nicht die Sichtkontrolle.

Ein aktuelles Urteil des Landgerichts Lübeck (Az. 9 O 113/21 vom 19.07.2023) erinnert eindrücklich daran, dass moderne Fahrerassistenzsysteme nicht von den klassischen Sorgfaltspflichten im Straßenverkehr entbinden – insbesondere nicht beim Rückwärtsfahren. Das Gericht befasste sich mit einem Verkehrsunfall auf einem Supermarktparkplatz, bei dem sich zwei Fahrzeuge beim Ausparken bzw. Vorbeifahren touchierten.

Sachverhalt: Rückwärtsfahren mit Kamera vs. Geradeausfahrt mit überhöhter Geschwindigkeit: Ein Pkw-Fahrer setzte rückwärts aus einer Parklücke, wobei er sich überwiegend auf die Rückfahrkamera seines Fahrzeugs verließ. Gleichzeitig fuhr ein anderer Fahrzeugführer mit ca. 15 km/h hinter dem ausparkenden Wagen entlang – deutlich schneller als die auf Parkplätzen gebotene Schrittgeschwindigkeit. Es kam zur Kollision.

Beide Beteiligten machten sich gegenseitig für den Unfall verantwortlich. Während der Rückwärtsfahrende geltend machte, der andere habe den Unfall provoziert und sei absichtlich weitergefahren, behauptete der Geradeausfahrende, das ausparkende Fahrzeug sei plötzlich und ohne ausreichende Sichtprüfung zurückgesetzt worden.

Entscheidung: Rückwärtsfahrender trägt Hauptverantwortung.

Das Landgericht Lübeck holte ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten ein und vernahm mehrere Zeugen. Das Ergebnis: Beide Fahrer trifft ein Verschulden – jedoch in unterschiedlichem Maße:

•   Der rückwärtsfahrende Fahrer habe seine Rückschaupflicht verletzt. Wer rückwärts fährt, muss jederzeit sicherstellen, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet wird. Die ausschließliche oder überwiegende Nutzung einer Rückfahrkamera genüge diesem Maßstab nicht. Er hätte zusätzlich über die Schulter blicken müssen.

•   Der geradeausfahrende Fahrer wiederum habe gegen das Gebot der Schrittgeschwindigkeit auf Parkplätzen verstoßen. Bei 15 km/h sei ein rechtzeitiges Reagieren – insbesondere Bremsen – bei plötzlichem Ausparken nicht mehr gewährleistet.

Das Gericht erkannte eine überwiegende Haftung des Rückwärtsfahrenden an. Die Rückfahrkamera könne nicht als Ersatz für eine unmittelbare Sichtkontrolle dienen. Da die Gefährdung des rückwärtigen Verkehrs nicht wirksam ausgeschlossen wurde, treffe ihn die Hauptschuld. Der Geradeausfahrende müsse sich aber seine unangepasste Geschwindigkeit anrechnen lassen.

Ergebnis:
• Rückwärtsfahrer haftet zu 2/3
• Geradeausfahrender zu 1/3

Das Urteil macht klar: Fahrerassistenzsysteme wie Rückfahrkameras oder Sensoren können hilfreiche Unterstützungsmaßnahmen sein – sie entbinden jedoch nicht von der eigenen Sorgfaltspflicht. Beim Rückwärtsfahren ist stets eine aktive Umfeldkontrolle durch direkte Sicht erforderlich. Dies gilt insbesondere auf unübersichtlichen Flächen wie Supermarktparkplätzen, wo jederzeit mit querendem Fußgänger- und Fahrzeugverkehr zu rechnen ist.

Auch Geradeausfahrer sollten sich nicht in falscher Sicherheit wiegen: Auf Parkplätzen gilt Schrittgeschwindigkeit – wer schneller fährt, handelt ordnungswidrig und haftet im Schadensfall anteilig mit.

Die Entscheidung des LG Lübeck (Az. 9 O 113/21) ist rechtskräftig.

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